Wettrüsten hat begonnen: Wie KI zur Herzkammer der Sportwelt vordringt (2024)

Frankfurt am Main. Noah Lyles (USA) hat sich im Stade de France mit 9,79 Sekunden die olympische Goldmedaille geschnappt. Direkt eben der gigantischen Wettkampfarena steht ein in Schwarz gehaltener Pavillon. Im Innern wurde ein Parcours errichtet, der dazu taugen soll, die Nachfolger und Nachnachfolger von Lyles und anderen Medaillengewinnern zu finden.

Der Parcours ist für Olympiatouristen gedacht. Es gibt sechs Stationen, die den Besuchern einiges abverlangen. Sie müssen auf der Stelle laufen, aus dem Stand hüpfen, auf bunte Knöpfe drücken, um die Reaktionsgeschwindigkeit zu ermitteln. Natürlich werden auch Körpergröße und die Spannweite bei ausgestreckten Armen kontaktlos gemessen.

Zum Schluss noch ein ganz kurzer Sprint. Der dient vor allem dazu, die sogenannte Explosivkraft zu ermitteln. Möglichst schnell möglichst viel Kraft entwickeln – das ist wichtig für den 100-Meter-Lauf.

Bei den Olympischen Spielen in Paris wird in einem Pavillon vor der Wettkampfarena der Einsatz von KI im Sport für die Besucherinnen und Besucher erfahrbar gemacht.

Quelle: Frank-Thomas Wenzel

Im Hintergrund werkelt avancierte Informationstechnik, die der Chiphersteller Intel in Zusammenarbeit mit Samsung installiert hat. Künstliche Intelligenz (KI) errechnet, für welche von zehn olympischen Sportarten die Testperson besonders geeinigt ist.

„KI hat den Spitzensport bereits durchdrungen“

Dem Autor dieses Texts wird die Empfehlung 100-Meter-Sprint mit auf den Weg gegeben – wegen hoher Explosivkraft. Mit bereits fast 62 Lebensjahren dürfte es allerdings reichlich spät sein, um noch die Nachfolge von Noah Lyles anzutreten.

Die in blaues Licht gehüllte Hightechgrotte neben dem Stade de France hat Symbolkraft. Zeigte sie doch in den vergangenen zwei Wochen, dass künstliche Intelligenz (KI) ganz nah an die Herzkammer der Sportwelt herangekommen ist.

Wobei: „KI hat den Spitzensport bereits durchdrungen“, sagte Daniel Memmert dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Und die Einsatzbereiche würden ständig erweitert. Memmert ist Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln und ein renommierter Experte für Trainingswissenschaft und Sportinformatik.

Zumindest unter den olympischen Sportarten dürfte es keine geben, für die es noch keine Anwendungen mit intelligenten Computerprogrammen gibt. Und permanent kommen neue hinzu. IT-Konzerne wittern hier einen neuen, viele Milliarden Euro und Dollar schweren Zukunftsmarkt.

Doping erwünscht: Wie Techmilliardäre die Olympischen Spiele verändern wollen

Gibt es bald sportliche Wettkämpfe, bei denen Doping ausdrücklich erlaubt ist? Das ist zumindest die Vision einiger Unternehmer und Techmilliardäre. Bei den Enhanced Games sollen sich Athletinnen und Athleten mit leistungssteigernden Mitteln aufputschen dürfen.

Auch Start-ups mischen mit. Wie die Magdeburger Firma Wingfield. Ihr Produkt ist ein etwas klobig geratenen Pfosten zum Halten eines Tennisnetzes. In die Pfosten sind Displays und Hochgeschwindigkeitskameras eingelassen. Die ermitteln wie schnell und wie präzise Tennisspielende gelbe Bälle ins Feld zimmern.

„Innovative KI-Verfahren tracken alle Facetten deines Spiels“, heißt es bei Wingfield. Noch auf dem Platz gebe es Feedback zu jeder Übung. So würden „völlig neue und interaktive Coachingformate“ möglich. Viele hiesige Vereine haben die smarten Netzpfosten – pro Stück ab knapp 5000 Euro – bereits auf ihren Plätzen installiert.

Schnelle Analysen

„Künstliche Intelligenz wird überall da eingesetzt, wo es große Mengen von Daten gibt“, erläutert Sportinformatiker Memmert. Die Daten würden in Individualsportarten zur Trainingssteuerung und für Prognosen von künftigen Leistungssteigerungen eingesetzt. Die KI-Königsdisziplin ist für Memmert aber der Fußball: „Je mehr Menschen interagieren, desto komplexer wird der Sport. Deshalb kann die KI insbesondere für Mannschaftsportarten einen großen Mehrwert bringen.“

KI bringt eine massive Beschleunigung bei der Analyse von Spielen. „Man kann in derselben Zeit nicht mehr nur fünf Fußballspiele, sondern leicht deutlich mehr Spiele analysieren: 30, 50, 100.“ Was die Datengrundlagen erheblich profunder und verlässlicher mache. „Und zweitens werden damit Muster erkannt, die bislang verborgen waren“, so Memmert.

Der FC Liverpool hat sich deshalb mit Experten von Googles KI-Sparte Deepmind zusammengetan und das Programm TacticAI entwickelt, um Eckbälle in allen möglichen Varianten automatisiert zu analysieren. Der Trainerstab kann nun virtuell Spieler im Strafraum positionieren und ausprobieren, was dann beim Hereinschlagen eines Eckballs geschieht. Dank TacticAI sollen so für Angreifer und Verteidiger optimierte Bewegungsabläufe entwickelt werden. Die Vorhersagen über das Spielgeschehen seien sehr präzise gewesen, heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie der Forschergruppe.

Scholz sieht Olympia in Paris als „große Inspiration“ für deutsche Bewerbung

Bei seinem zweiten Besuch der Olympischen Spiele in Paris spricht Bundeskanzler Olaf Scholz unter anderem über Pläne für eine deutsche Bewerbung.

Quelle: dpa

Profifußball ist ohne die schlauen Algorithmen nicht mehr denkbar. Letztendlich, so Memmert, gehe es um nichts Geringeres als aus Daten, den Ausgang von künftigen Fußballspielen abzuleiten. Ein digitales Wettrüsten ist nicht nur im Fußball, sondern in der gesamten Sportwelt entbrannt. KI kann den entscheidenden Vorteil bringen, wenn es um Sieg und Niederlage geht.

Auch der Wintersport ist betroffen. In einer ZDF-Dokumentation räumt Karlheinz Weibel, Trainer im Deutschen Skiverband, ein, dass es im Skilanglauf gar keine andere Wahl mehr gebe, als viel Geld in die Hand zu nehmen – etwa zur Entwicklung von intelligenten Lösungen fürs Wachsen der Skier. „Würden wir das nicht tun, würden wir in den nächsten Jahren Nachteile erleiden.“ Schon mehrfach hat er öffentlich mehr staatliche Unterstützung für einen verstärkten KI-Einsatz gefordert.

Scouting ist von großer Bedeutung

Eine enorm große Bedeutung nimmt inzwischen das Scouting mit KI ein. Beispiel Fußball: Es gibt riesige international vernetzte Datenbanken, wo die wichtigsten Parameter für eine fünfstellige Zahl von Profikickern hinterlegt sind. Beantwortet werden auch folgende Fragen: Wie gut kann der Spieler sich freilaufen? Spielt er eher risikolose oder waghalsig steile Pässe? Wie sieht es mit Laufleistung und der Torgefährlichkeit aus? Wenn es um Transfers in den obersten Fußballligen in Europa geht, sind Abfragen dieser und anderer Parameter längst obligatorisch geworden.

Der negative Effekt: IT auf dem neuesten Stand lässt den personellen und der finanziellen Aufwand massiv steigen. „Das aktuelle Organigramm des Trainerstabs der ersten Mannschaft von Bayern München umfasst 14 Personen, dazu zählen allein drei Spielanalysten. Die Trainerstäbe werden immer mehr aufgeblasen. Die KI vertreibt keine Menschen, das Gegenteil ist der Fall“, erläutert Memmert. Beobachter sehen hier die Gefahr, dass durch KI die Schere zwischen den Armen und den Reichen im Sport noch weiter auseinandergeht.

Intelligenz hilft: Wie KI die Demokratie stärken könnte

Die einen fürchten sich vor ihr, andere sehen in ihr das Allheilmittel der Zukunft: Künstliche Intelligenz. Einig sind sich die meisten, dass ihr Einsatz die Welt ähnlich verändern wird wie das Internet. Nun wollen Aktivisten und Forscher KI ausgerechnet zur Stärkung der Demokratie nutzen.

Intel betreibt in Kooperation mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) indes eine ganz andere Art von Scouting. Die blaue Grotte neben dem Stade de France gibt es quasi auch in einer mobilen Version. Sie wurde im Senegal eingesetzt: Mehr 1000 Jugendliche wurden getestet, um Talente für die olympischen Jugendspiele 2026 in Dakar zu entdecken.

Herzstück ist die „3D Athlete Tracking Software“ (3DAT). Das Besondere: Sie funktioniert ohne spezielle Sensoren, Markierungen oder gar Anzüge. Es reichen Bewegtbilder von einem Mobiltelefon. Bei der Auswertung erfassen gleich mehrere KI-Modelle 22 Punkte am Körper der Sportler, um deren Biomechanik zu analysieren. „Die 3DAT-Modelle basieren auf olympischen Athleten“, erläutert Jean-Laurent Philippe, Technologiechef für Europa, Mittleren Osten und Afrika bei Intel.

Die Handyvideos werden mit einer großen Zahl anderer Aufnahmen verglichen, bei denen die gleichen sportlichen Übungen vollführt wurden. Die Ergebnisse können die Grundlage für individuelle Trainingsprogramme liefern. Das System ist laut Intel aber auch in der Lage, gesundheitliche Einschränkungen bei Knochen und Muskeln zu erkennen.

Das hehre Ziel: „Eine Technologie zu nutzen, um sportliche Talente aus der ganzen Welt zu entdecken und zu fördern“. Dahinter steckt die Idee, KI als einfache Alternative zu aufwendigen Tests mit Laufbändern oder Ergometern einzusetzen. Intel spricht von einer Demokratisierung des Sports.

Das 3DAT-Programm hat einen weiteren, einen kommerziellen Vorteil: Es verspricht Massentauglichkeit. Geringe Kosten und eine einfache Handhabung sollen die Anwendung auch für den Amateursport attraktiv machen, was die Chancen für eine lukrative Vermarktung erhöhen kann. Und Intel will weitere Einsatzgebiete erkunden, im Gesundheitswesen, in der Rehabilitation.

KI kann nichts wirklich Neues entdecken

KI als universelle Superpower für alles, was mit Bewegung zu tun hat: Memmert warnt: „Die Probleme der Anwendungen liegen darin, dass man nichts Neues entwickeln kann. Man kommt nicht out of the Box.“ Beispiel 100-Meter-Lauf: Der Jamaikaner Usain Bolt hält mit 9,58 Sekunden noch immer den Weltrekord. Dabei war Bolt (Stichwort: Explosivkraft) ein schlechter Starter, konnte dann aber auf eine noch immer unerreichte Höchstgeschwindigkeit von fast 45 Stundenkilometer kommen.

Passt das ins Schema des 100-Meter-Sprints? Experten verweisen bei dieser Frage darauf, dass alles davon abhänge, KI möglichst intensiv zu trainieren, um möglichst ausdifferenzierte Muster zu erhalten.

Aber was ist mit komplett Neuem? Memmert verweist auf den Hochsprung: „Etwas wie die Erfindung des Fosbury-Flops wird bei Datenauswertungen nicht herauskommen.“ Hunderte Jahre sprangen Menschen ausschließlich vorwärts über eine hochgelegte Latte. KI-Algorithmen sind bislang aber zu dumm, um auf die Idee zu kommen, rückwärts drüber zu springen. Genau das hat der US-Athlet Dick Fosbury aber als Erster getan. Und damit die Goldmedaille im Hochsprung bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico geholt. Heute springt jeder Hochspringer wie er.