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Die Schauspielerin und Filmemacherin Maryam Zaree ist in einem iranischen Foltergefängnis geboren worden. Ihre Mutter hat nie mit ihr darüber geredet. Im ihrem Dokumentarfilm «Born in Evin» macht sie sich auf Spurensuche.
Vahid Saber
9 min
NZZ am Sonntag: Frau Zaree, wie alt waren Sie, als Sie durch Zufall erfuhren, dass Sie im Gefängnis geboren wurden?
Maryam Zaree: Ich muss zwischen zehn und dreizehn gewesen sein. Ich kann es nicht ganz genau zuordnen.
Wie haben Sie damals reagiert?
Es hat mich erschreckt. Das war ein fremder, unvorstellbarer Gedanke. Als Kind stellt man sich ein Gefängnis als Ort für Verbrecher vor. Auch die erschrockene Reaktion meiner Tante, von der ich es versehentlich erfahren hatte, gab mir das Gefühl, dass es etwas ganz Schlimmes ist, worüber man nie reden darf. Ich habe es damals als Tabu abgespeichert, als etwas, das ich niemals hätte erfahren dürfen.
Warum war Ihre Mutter inhaftiert?
Weil sie politisch aktiv war. Weil sie Flyer verteilt hat. Sie hatte sich in Teheran schon vor der Islamischen Revolution zusammen mit meinem Vater für soziale Gerechtigkeit und die Demokratie eingesetzt. Sie waren Idealisten und haben an eine bessere Welt geglaubt. Nach der Machtergreifung Khomeinis hat sich ihr politischer Kampf intensiviert, aber ich glaube, sie haben nicht mit der heftigen Reaktion und den furchtbaren Repressionen des Regimes gerechnet! Ihre Politisierung hat nach ihrer Verhaftung eine völlig neue Dimension angenommen, auch durch die Erfahrung der Folter.
Maryam Zaree
Geboren 1983 in Teheran, wuchs sie in Frankfurt auf und studierte in Potsdam Filmschauspiel. Zaree trat in zahlreichen Kino- und TV-Produktionen auf und ist Gastschauspielerin an verschiedenen deutschen Theatern. Für ihre Doku «Born in Evin» erhielt sie den Hessischen Newcomer-Filmpreis.
Ihre Eltern kamen 1983, in Ihrem Geburtsjahr, als politische Dissidenten ins berüchtigte Foltergefängnis Evin?
Ja. Im Gefängnis wurde die Todesstrafe gegen meinen Vater verhängt. Sie haben dadurch erst gemerkt, was überhaupt auf dem Spiel steht. Meine Mutter war gerade einmal 18! Und sie war mit mir schwanger.
Etwa zwei Jahre war Ihre Mutter in Evin. Nach ihrer Freilassung floh sie mit Ihnen an der Hand nach Deutschland. Wie ist Ihr Iran-Bild heute?
Für mich ist Iran eine Leerstelle. Ich habe keine bewusste Erinnerung an das Land. Ich spüre auch keine Sehnsucht. Es gab dafür viele Platzhalter, wie die jüdische Herkunft meines Stiefvaters. Ein grosser Teil meiner Verwandten lebt in Frankreich, also wurde ich auch mit der französischen Kultur gross, ausserdem habe ich Familie in Amerika und in England.
Betrachteten Sie Frankfurt, wo Sie lebten, bis Sie in Potsdam Schauspiel studierten, als Ihre Heimat?
Mein Heimatgefühl hat sich nie an eine Nationalität oder einen Ort gebunden, sondern an Menschen und Sprachen. Ich fühle mich in diesem multiplen Zuhause sehr wohl. Von klein auf hörte ich von meinem Vater, wir seien Weltbürger. Das ist für mich nicht nur eine politische Behauptung - ich empfinde es wirklich so: Ich fühle mich zu Hause in der Welt.
Ihre Recherche nach den Umständen Ihrer Geburt dauerte insgesamt vier Jahre. Was gab den Auslöser dafür?
Für mich war es ein langer Prozess, bis ich irgendwann sagen konnte, dass es mich sehr wohl etwas angeht, wo ich geboren wurde und woher ich komme. Immerhin gehören zu einer Geburt zwei Personen. Deshalb wollte ich irgendwann mehr erfahren. Ich hatte bis dahin das Gefühl, dass meine Geburt nicht mir gehören würde. Und das schmerzte.
In der Doku lernt man Ihre Mutter Nargess Eskandari-Grünberg als extrem patente Frau kennen: Sie hat politisches Asyl beantragt, zog Sie allein auf, da Ihr Vater noch in Haft war, studierte, wurde Psychotherapeutin.
Und dazu noch Politikerin, ja! Sie ist ehrenamtliche Stadträtin und liess sich vor zwei Jahren als erste Migrantin zur Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt aufstellen.
Eine eloquente, souveräne Seelenspezialistin, die keine Polit-Debatte scheut, schafft es bis heute nicht, mit ihrer Tochter über dieses Trauma zu sprechen. Es ist erschütternd zu sehen, wie sie förmlich verstummt.
Nachdem ich diesen Film gedreht habe, habe ich einiges verstanden. Rückblickend würde ich nicht einmal sagen, dass meine Mutter geschwiegen hat. Es war vielmehr eine Form nonverbaler Kommunikation von ihr: Es fand nicht im Sprachlichen statt, sondern auf allen anderen Ebenen. Sie konnte sich etwas, das so schmerzhaft und unerträglich ist, nicht über die Sprache nähern.
Fand sie andere Wege, um sich mit Ihnen auszutauschen?
Meine Mutter konnte mir so vieles vermitteln über die Art und Weise, wie sie durchs Leben geht und wofür sie einsteht. Sie hat sich immer ihren Idealismus und ihre Integrität bewahrt. All das sind auch Formen der Kommunikation. Sie wurde in Teheran verfolgt und traumatisiert - aber das hat sie zu dem Menschen gemacht, der sie nun ist. Sie hatte dem etwas entgegenzusetzen. Sie konnte nicht darüber sprechen - trotzdem hat alles, was sie im Leben erreicht hat, ihre persönliche Geschichte erzählt.
Welche Momente auf Ihrer Suche sind bis heute die schmerzhaftesten?
Ich war zunächst auf der Suche nach den anderen Kindern, die auch im Evin-Gefängnis geboren wurden. Dabei habe ich eine Zellengenossin meiner Mutter gefunden, die auch bei meiner Geburt anwesend war. Sie erzählte, dass mich eine Wärterin Hurenkind genannt habe. Aber dann wiederum erzählte sie, dass die 30 Frauen in der Zelle nach meiner Geburt applaudiert hätten. Wie verwebst du aus solchen Widersprüchen ein Narrativ? Eine Überlebensstrategie der Betroffenen war es, sich aufs Positive zu konzentrieren. Die Zellengenossin erzählte, dass ich mit so viel Liebe verwöhnt worden sei. Statt dieser Schönfärberei wollte ich aber hören, was in diesem verdammten Gefängnis wirklich vor sich gegangen war! Vielleicht braucht es die zweite Generation der Opfer, die die Sprache dafür finden kann.
Sie wurden vier Jahre nach der Islamischen Revolution geboren, der Zeitenwende Irans im Jahr 1979. Die Euphorie nach der Schah-Flucht und der Machtübernahme Khomeinis war längst vorbei, die Iraner realisierten, dass die Mullahs die Macht missbrauchten. Haben Ihre Eltern mit ihren Polit-Aktionen dagegen protestiert?
Ja, so war das. Plötzlich konnte niemand mehr dem anderen trauen. Dein Nachbar konnte dich für irgendetwas anschwärzen, das hiess oft: Todesstrafe. Ich habe mich lange mit Jean Améry beschäftigt, dem Shoah-Überlebenden, der zwanzig Jahre nicht gesprochen hat. Er erfand dafür einen Begriff, «wenn der Mitmensch zum Gegenmensch wird». Das ist eine immense, unvorstellbare Zerrüttung der Identität, gerade für junge Menschen. Améry spricht auch von dem Verlust des «Weltvertrauens». Diesen Weg gehe ich als Protagonistin: Ich frage, wie man wieder ein «Weltvertrauen» finden kann, wenn es so brutal zerstört worden ist.
Warum haben Sie Ihre persönliche Suche überhaupt zu einem Film verarbeitet und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht?
Ursprünglich wollte ich in diesem Film gar nicht vorkommen. Ich dachte, es würde genügen, für die anderen im Gefängnis geborenen Kinder einzustehen. Aber letztlich war das nur ein weiterer Verdrängungsmechanismus. Ich merkte, wenn ich es schaffe, mich selbst zu begleiten, dann habe ich die Chance, durch meine eigene Reise in die Dunkelheit auch andere Menschen zu ermutigen, sich in ihren Abgrund vorzuwagen. Denn es hilft, wenn man in den Abgrund sieht, dem Schrecklichen einen Namen geben kann und eine Form.
War Ihr Film auch eine Selbsttherapie?
Nein, das nicht. Aber neben der intellektuellen Ebene geht es auch um Trauerarbeit. Ich glaube, es gibt viele ungeweinte Tränen. Wenn sie nicht geweint werden und keinen Ausgang finden, dann entwickeln sie eine eigene Dynamik, die sich in vielen Bereichen negativ auswirkt.
Was könnten kollektive «ungeweinte Tränen» bewirken?
In einer Gesellschaft zum Beispiel Populismus! Was wir mit Trump oder der AfD erleben, zeigt mir, dass viele Menschen, etwa in Ostdeutschland, einen grossen Schmerz in sich tragen. Viele mögen einen Identitätsverlust erlitten haben oder einen Verlust ihrer Würde. Wenn diese Gefühle nur unter den Teppich gekehrt werden, sucht der Schmerz sich eine andere Projektionsfläche. So eine Dynamik ist gefährlich. Ich würde also sagen, dass wir eine politische Verantwortung haben, uns mit Trauer auseinanderzusetzen.
Die Uraufführung Ihres Films auf der Berlinale sahen auch andere politisch Verfolgte und Folteropfer unterschiedlichster Herkunft. Wie lautet Ihre Antwort auf Amérys Frage: Kann man Weltvertrauen wiedererlangen?
Meine Antwort darauf ist dieser Film. Darin sage ich: Das, was am Menschsein oft so unerträglich ist, ist, dass die schrecklichen Abgründe des Lebens immer mit dem Schönen und der Überwindung der Abgründe Hand in Hand gehen. Das Gute und das Böse existieren immer gleichzeitig - und um das auszuhalten, muss man Abgründe anerkennen statt verdrängen. Der Preis, um sein Weltvertrauen wiederzugewinnen, ist hoch. Ohne die Konfrontation mit dem Horror geht es nicht.
Wenn Sie Bilanz ziehen: Wie empfinden Sie es jetzt, so viel über Ihre Vergangenheit herausgefunden zu haben?
Diese Erfahrung ist ein Teil von mir. Ich «wusste» es schon immer, aber ich hatte keinen bewussten Zugang dazu. Die tatsächliche Erfahrung im iranischen Gefängnis ist vielleicht gar nicht so relevant. Wenn man sich mit der Shoah, mit Bosnien oder anderen grossen historischen Verbrechen an Menschenrechten auseinandersetzt, muss es in meiner Aufarbeitung über den spezifischen Kontext weit hinaus gehen! Es geht eher um ein Anerkennen der Vergangenheit, dessen, was passiert ist. Und um ein Aushalten.
Hat Ihr Aushalten eine andere Qualität bekommen? Was hat der Film für Sie verändert?
Alle betroffenen Frauen, die ich kennenlernte, brachten mich weiter. Zum Beispiel die Soziologin Chahla Chafiq. Ihr Satz, dass wir angesichts des Despotismus das Individuum hochhalten müssen, wurde mein Leitfaden.
Wurde mit Frauen im Gefängnis anders umgegangen als mit Männern?
Soziologisch wird differenziert zwischen dem ideologischen und dem diktatorischen Gefängnis. Das Ziel des ideologischen Gefängnisses ist, das Individuum zu brechen, in seinem intimsten Verhältnis zu Gott und allem, woran er glaubt. Die Folter soll den Menschen dazu bringen, seine Überzeugung aufzugeben. Natürlich wurden viel mehr Männer hingerichtet. Den Frauen wurde ihre politische Motivation einfach abgesprochen! Das führte zu geschlechtsspezifischen Foltermethoden und Demütigungen. Dazu gehörte sexueller Missbrauch. Oft waren die Kinder auch bei der Folter dabei, um die Mütter noch stärker unter Druck zu setzen. Auch mangelnde Hygiene war ein Problem, da wurde die Frau auch aufgrund ihres Frauseins zum Opfer.
«Sie erzählte, dass mich eine Wärterin Hurenkind genannt habe. Aber dann erzählte sie, dass die 30 Frauen in der Zelle nach meiner Geburt applaudiert hätten.»
Sie haben eine interessante Erkenntnis gewonnen über persische Frauen und ihren Bezug zum Schminken.
Genau: Ich habe mich als Kind schon sehr gegen die klassische Feminität meiner Mutter mit ihren High Heels und ihrem Lippenstift aufgelehnt, da ich mich burschikos wohler fühlte. Mich hat immer gewundert, wie ich so anders sein konnte als sie. Ich sah mich auch als Kind der deutschen und europäischen Frauenbewegung, in der sich Frauen von diesen Vorgaben befreien, weil sie in den 1950ern eine Pervertierung des Weiblichen erlebt haben. Im Kontrast dazu sind Iranerinnen meist Frauen, die versuchen, aus dem unterdrückenden Frauenbild von Schleier, Kopftuch und weiten Mänteln, das das Regime Irans vorgegeben hat, auszubrechen. Schminken ist dort ein Akt des politischen Widerstands. Sie sagen mit jedem Lidstrich, mit jeder Locke und ihren High Heels, dass sie sich nicht verstecken wollen. Sie zeigen: «Wir sind sichtbar!»
Die Klimax Ihrer Doku wird erreicht mit dem Iran-Tribunal in Den Haag, einem symbolischen Volkstribunal, vor dem eine Protagonistin vorträgt, welche Folterqualen ihre Mutter erleiden musste.
Ein offizielles Tribunal zu den Verbrechen, die von staatlicher Seite in Iran begangen wurden, gab es nie. Diese junge Frau, Chowra, eine Anthropologin, wurde eine entscheidende Figur bei meiner Aufarbeitung. Chowra wurde zum Sprachrohr der zweiten Generation. Trotz ihrem eigenen furchtbaren Schicksal formulierte sie eine Erkenntnis, die mir Gänsehaut beschert: dass es einen unausgesprochenen Auftrag an uns gibt, die Kinder der zweiten Generation. Wir sind der Widerstand der ersten Generation! Aus uns wurden gute Erwachsene, die es richtig machen. Wir sind eine lebende Botschaft der ersten Generation, die durch uns sagt: «Das ist das, was wir von der Welt wollten: Guckt her, wie toll unsere Kinder geworden sind!» Aber die Tränen in unseren Augen verraten auch, wie schwer diese Päckchen für uns zu tragen sind.
Sie wollten keinen Film über Iran machen. Klagen Sie mit «Born in Evin» auch das Regime Irans an, das nun seit 40 Jahren an der Macht ist?
Natürlich! Das sind Verbrecher, die hinter Gitter gehören. Sie müssen Rechenschaft für das ablegen, was sie getan haben. Ich mache diesen Film ja auch in dem Wissen, dass ich nicht in das Land kann. Aber mir ist wichtig klarzustellen, dass ich keinen Film über die Täter drehen wollte, sondern über die Überlebenden. Ich wollte zeigen, welche Auswirkungen die Taten hatten. Die Geschichte der Gewalt löst sich nicht auf, sondern zieht in die Leben und die Seelen der Kinder dieser Opfer ein. Ich wollte nie nur über Iran sprechen. Mir war klar, dass ich in den Bereichen ansetzen muss, die uns alle verbinden. Ich bekomme Nachrichten aus der ganzen Welt von Menschen, die ihre Gefängniserfahrung schildern oder andere Formen von Gewalt erlebt haben.
Das Schweigen der ersten Opfergeneration muss als Akt des Widerstands verstanden werden. Wo setzen Sie da an?
Ich bin nicht sicher, ob dieses Schweigen ein selbstbestimmtes Schweigen war, eine bewusste Entscheidung. Es war erst einmal eine Überlebensstrategie. Die Psyche weiss schon, warum sie gewisse Traumata abspalten will. Die Seele zerspringt in Einzelteile. Der Film versucht Dinge wieder zusammenzuführen, lässt aber auch bewusst einige Leerstellen. Vielleicht sieht man, dass man dem Schrecken durchaus etwas entgegensetzen kann: Menschlichkeit, Liebe, Kommunikation und Verbundenheit.
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